Aus Reichsstrasse wird Bundesstrasse: Von der Maas bis an die Oder - die B1
Etwa jeder 10. Mensch in Deutschland wohnt in einer Stadt, durch welche diese Straße führt. Jedoch: kaum jemand kennt ihre Geschichte - die Bundesstraße 1.
Jeder kennt jene Nummerntafeln mit schwarzer Schrift auf gelben Hintergrund, aber nur wenige wissen, dass diese Schilder entlang der Fernstraßen bereits 1934 eingeführt wurden. Damals trug die Straße noch den Namen Reichsstraße 1 und durchquerte das Deutsche Reich von seiner westlichen bis zu seiner östlichen Grenze: über 1392 Kilometer von Aachen bis nach Eydtkuhnen. Oder: „von der Maas bis an die Memel“, wie die Ausdehnung des deutschen Staatsgebietes in der ersten Strophe jenes Liedes beschrieben wird, dessen dritte Strophe heute unsere Nationalhymne ist. Aber das Lied der Deutschen stammt aus dem 19. Jahrhundert; und seither ist viel geschehen. An kaum einer anderen Straße lässt sich die deutsche und die europäische Geschichte so deutlich ablesen wie an der Eins.
Nach dem Ersten Weltkrieg wurden durch den Versailler Vertrag die Grenzen Deutschlands geändert: zwischen dem Kernreich und Ostpreußen entstand der so genannte Polnische Korridor und die Stadt Danzig wurde zusammen mit dem Großen Marienburger Werder zu einem teilsouveränen Staatsgebiet unter der Aufsicht des Völkerbundes. Nachdem im Jahr 1926 die Nummerierung der Fernstraßen beschlossen worden war entstand folgende Systematik: die in west-östlicher Richtung verlaufenden Straßen bekamen gerade und jene in nord-südlicher Richtung ungerade Nummern. Und wie in fast jedem Land der Welt führte jene Straße mit der Nummer 1 durch die Hauptstadt, in diesem Fall die Reichshauptstadt Berlin. Im Jahr 1932 bekamen die Straßen dann jene Nummerierung, welche sich bis in unsere Zeit gehalten hat. Dazugekommen sind allerdings die Autobahnen, bei deren Nummerierung es sich entgegengesetzt verhält: die ungeraden Nummern verlaufen von Norden nach Süden und die geraden von Westen nach Osten. So führen heute sowohl die Bundesstraße 1, als auch die Bundesautobahn 2 vom Ruhrgebiet aus in Richtung Berlin.
Die Verantwortung für das deutsche Fernstraßennetz lag zunächst noch bei den einzelnen Provinzen und die einzelnen Routen wurden als FVS (Fernverkehrsstraße) bezeichnet. Im Jahr 1934 ging in Folge einer Gesetzesänderung die Verantwortung von den Provinzen auf das Reich über und die Straßen wurden in Reichsstraßen umbenannt. Diese Regelung gibt übrigens heute noch: die Bundesstraßen gehören der Bundesrepublik Deutschland und werden in deren Auftrag von den einzelnen Bundesländern verwaltet. Und jene Straße mit der Nummer 1 durchquert auch heute noch das deutsche Staatsgebiet von seiner westlichen Grenze bei Aachen bis zu seiner östlichen Grenze an der Oder in Küstrin-Kietz. Aber jetzt in einem freien Europa, in welchem es keine echten Grenzen mehr gibt. Aber es gab viele Grenzen. Die historische Reichsstraße 1 war in Folge des Zweiten Weltkrieges an mehreren Stellen unterbrochen und sie spiegelt, auch und gerade deshalb wie keine andere Straße Europas, die Nachkriegsgeschichte wieder.
Der Zweite Weltkrieg begann mit dem deutschen Angriff auf Polen 1939. Die ersten Kampfhandlungen diesen Tages ereigneten sich allerdings nicht wie weitläufig erzählt in Danzig, sondern an der Weichselbrücke Dirschau (heute Tczew). Die Schüsse auf die Westerplatte erfolgten erst einige Minuten später als der Angriff auf jenes Brückenpaar, welches die Preußische Ostbahn und Reichsstraße 1 über die Weichsel führten. Bis Kriegsbeginn war die R1 zwischen Niesewanz und Marienburg (heute Malbork) als Transitstrecke durch Polen und den Freistaat Danzig verlaufen – erst durch die Annexion dieser Gebiete wurde sie dann über die gesamte Länge von 1392 Kilometern durchgehend als 1 bezeichnet. Bis 1945, als die Sowjetarmee über die Reichsstraße 1 nach Berlin vorrückte. Die letzte Verteidigungslinie der Reichshauptstadt befand sich an den Seelower Höhen, wo bei erbitterten Kämpfen unzählige junge Menschen ihr Leben verloren.
Nach Ende des Krieges wurde das Staatsgebiet des Deutschen Reiches aufgeteilt. Die Potsdamer Konferenz zur Neuordnung Europas fand übrigens in direkter Nähe zur R1 statt, auf Schloss Cecilienhof in Potsdam. Die Gebiete östlich der Oder und der westlichen Neiße gehören seither zu Polen und der nördliche Teil von Ostpreußen zu Russland. Der Rest des Deutschen Reiches wurde von den vier Siegermächten gemeinsam verwaltet. Aus den vier Besatzungszonen entstanden dann im Jahr 1949 die beiden deutschen Staaten: die Bundesrepublik Deutschland aus den drei Besatzungszonen von Frankreich, Großbritannien und den Vereinigten Staaten sowie die Deutsche Demokratische Republik aus der Sowjetischen Besatzungszone. Die Gründung der DDR fand dabei direkt an der "Eins" statt, im Detlev-Rohwedder-Haus. Benannt nach dem von der RAF ermordeten Präsidenten der Treuhandanstalt, welche ebenfalls ihren Sitz in diesem Gebäude hatte. Somit wurde die DDR nicht nur an der "Eins" gegründet, sondern später auch an ihr „abgewickelt“.
Und all dies hatte auch Auswirkungen auf die Reichsstraße 1. Diese wurde in der Bundesrepublik zur Bundesstraße 1 (B1), welche von Aachen bis Helmstedt führte und in der DDR von Morsleben bis Küstrin-Kietz als Fernverkehrsstraße 1 (F1) verlief. Innerhalb Berlins führte die B1 von der Stadtgrenze von Potsdam aus bis zum Potsdamer Platz und vom Leipziger Platz als F1 weiter in Richtung Osten. Durch den Mauerbau 1961 war die ehemalige R1 dann innerhalb Deutschlands an drei Stellen unterbrochen: an der Innerdeutschen Grenze endete die B1 nach Helmstedt, in der DDR endete die F1 an der Glienicker Brücke (ja: jene, wo die Agenten ausgetauscht wurden!) und in Berlin endete die Potsdamer Straße an der Berliner Mauer.
Die erste Grenzüberschreitung nach der Verlesung der „Neuen Reiseregelung“ durch Günter Schabowski erfolgte übrigens direkt über der Eins. Am 9. November 1989 überschritt Annemarie Reffert zusammen mit ihrer damals 6jährigen Tochter Juliane am Grenzübergang Helmstedt-Marienborn die Innerdeutsche Grenze. Die B1 (west) und F1 (Ost) trafen sich zwischen Helmstedt und Morsleben in Sachsen-Anhalt als Sackgassen. Ein Grenzübertritt war nur auf der Autobahn 2 möglich, zu welcher eine B1a genannte Verbindungsstrecke führte. Aber die Bundesstraße verläuft genau neben der Grenzlinie unter der Autobahn hindurch. Als Frau Reffert die Innerdeutsche Grenze überschritten hatte, stand sie also direkt über der historischen Reichsstraße 1. Die historische Hanse- und Universitätsstadt Helmstedt bietet heute eine Vielzahl an Handel, Dienstleistungs-, Freizeit und Kulturangeboten. Wir empfehlen auch einen Besuch der Altstadt.
Da die Nummerierung der Fernstraßen in beiden deutschen Staaten weitestgehend beibehalten worden war, konnten diese bei der Wiedervereinigung im Jahr 1990 wieder zusammengefügt werden … so wurde die Wiedervereinigung Deutschlands auch zu einer Wiedervereinigung seiner Straßen: Die Bundesstraße 1 und die Fernverkehrsstraße 1 wurden zur gesamtdeutschen Bundesstraße 1, auf welcher man heute wieder von der Maas in Aachen in das 778 Kilometer weit entfernte Küstrin-Kietz an der Oder fahren kann.
Jenseits der Oder verläuft die ehem. R1 als DW132 weiter, von Gorzów (Landsberg) dann als DK22 bis Elbląg (Elbing) und von dort als DW504 weiter bis zur EU-Außengrenze zwischen Polen und der zu Russland gehörenden Provinz (Oblast) Kaliningrad und führt mit der A194 bis Kaliningrad (Königsberg/Preußen) und als A229 bis Tschernyschewskoje (Eydtkuhnen) an der Grenze zu Litauen.
Machen Sie sich mit den wichtigsten Verkehrsregeln im Nachbarland Polen vertraut, bevor Sie sich mit dem Auto auf den Weg über die Oder machen.
Der vorstehende Artikel entstand aus einer Idee zur Beschreibung des historischen Anfahrtsweges nach Kostrzyn. Oliver Diekmann betreibt die facebook-Seite "Reichsstraße 1" und hat das Projekt fachlich begleitet. Das Team Küstrin sagt vielen Dank.
Bearbeitungsstand 24.03.2018